Im Frühjahr 1982 starte ich an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main ins Studium der Literatur. Zwei Professoren verdanke ich Erstbegegnung mit prägender Dichtung: Winfried Frey führt mich ins Mittelalter zu Oswald von Wolkenstein, Volker Bohn in die Moderne zu Gottfried Benn. Nach einem Semester ruft mich die staatsbürgerliche Pflicht zum Zivildienst. Weil inzwischen Opa gestorben ist, miete ich mich bei Oma in Vechta ein und trete gleich in der Nachbarschaft beim Malteser Hilfsdienst meine Zivi-Stelle als Sanitäter an. Die WG mit Oma ist ein Traum, ich bleibe zum Weiterstudieren: an der Universität in Vechta. Die gibt’s.
Und in der Germanistik haben wir dort vier grandiose Professoren; allesamt brennen sie mit Expertise für ihre Themen: Otto Hannes Dörner stößt mich auf Rolf Dieter Brinkmann, Wilfried Kürschner erweckt in mir die Liebe zur Grammatik, Edgar Papp liest mit uns das Mittelhochdeutsche lebendig, und mit Jürgen Thöming entdecken wir Literatur im Widerstand. Jeder nach seiner Fasson, unterstützen die Herren uns traumhaft.
Bei anderen Lehrenden dagegen nimmt das Studium mitunter solch groteske Züge an, dass das Eigentliche dem Sekundären zugrundeliegende nicht mal mehr zur Sprache kommt: das schriftstellerische Werk. Wahrscheinlich lesen sie es gar nicht.
Die ansteckend animierenden Gelehrten zum einen, die papiernen Dampfplauderer zum anderen, das weckt Entdeckergeist wie es Handlungsbedarf schafft: Wir publizieren unsere eigene Literaturzeitschrift; für eigene Texte und für die anderer Autorinnen und Autoren.
Unsere in wechselnder Besetzung herausgegebene Schrift nennen wir nach einem berühmten Wiener Künstler-Café: GRÖSSENWAHN. Das mit dem historischen Café macht sich gut, ist aber zweitrangig; GRÖSSENWAHN – insbesondere aus Vechta heraus kann das was.
Die Hefte, sechs Stück werden es, stellen wir auf literarischen Partys in der Aula der Vechtaer Universität vor; teils von einem mitunter sehr bunten Mix Life-Musik begleitet. Selber mischen wir GRÖSSENWAHN-Herausgeber musikalisch auch mit: Jens Wiemken macht Jetarn, das ist multimedial von irgendwie rückgekoppelten Fernsehbildern begleiteter Synthi-Pop, Damian Ryschka dirigiert den sensationellen Männergesangverein Kroge-Ehrendorf, ich singe für die Brachialcombo SODOM UND GOMORRHA und für die TONALE KOHORTE. Wir machen – tja, was machen wir: Avantgarde Rock, darunter kann man sich alles vorstellen und nichts; klingt halt irgendwie geil.
Wenn dazu noch schrille Bremer Waver kommen oder die Vechtaer Punks der Meinrath von Hindenburg Corporation, dann wird es lebhaft im Saal. Die Punkband kann nur mit Mühen davon überzeugt werden, dass das akustisch wie optisch schon sehr effiziente Zerflexen von Ölfässern auf der Bühne keiner Ergänzung mehr durch ein zu schlachtenden Huhn bedarf; berechtigte Kritik an Massentierhaltung hin oder her.
Drucken lassen können wir die GRÖSSENWAHN-Auflage von 300 Stück gegen eine Kiste Bier plus Materialkosten in – pssst – einer Amtsdruckerei im benachbarten Diepholz. Die Pappeinbände fertigen wir teils im Siebdruck oder wir hängen sie im Garten auf Omas Wäscheleine und besprühen sie mit Farbe. Dann wird zusammengelegt und zusammengetackert. Wir verkaufen zum Preis von 3.- bis 4,80.- Mark.
Die Arbeit mit an und um GRÖSSENWAHN bringt uns Zerstreuung wie überregionale Kontakte zu Autorinnen und Autoren, Zugang zur Mannigfaltigkeit sprachlichen Ausdrucks, das eine und andere Mal um Schlaf wie Verstand und sehr schnell den erstrebten Ruf, ein elitärer Haufen zu sein – worin uns zu unserer großen Freude die Frankfurter Allgemeine Zeitung unterstützt, deren Feuilleton drei unserer sechs literarischen Bastelarbeiten wohlwollend erwähnt. Auch bringt uns solch adelnde Rezension einige Bestellungen aus der Ferne, sogar aus Übersee. Geht.
In meinen anderen beiden Disziplinen Kunst und Psychologie schaffe ich es über fast die gesamte Studienzeit, den Salbaderern und Dünnbrettbohrern aus Forschung und Leere auszuweichen.
In meinem besten Prüfungsfach Psychologie liebe ich die Vorlesungen und Seminare zweier Professoren, die einander lieber herzlich vermeiden: Sprachpsychologie bei der Wiener Grande Dame Stephanie Krenn. Und Epidemiologie bei dem großen Pragmatiker Jürgen Howe. In Bodenkontakt halten mich etliche Veranstaltungen und Verrichtungen in Psychosozialer Praxis beim Therapeuten Peter Bublitz.
Die Kunst absolviere ich tatsächlich ohne dänischen Schiffsschrott zu malen; weshalb die bedeutenden Exkursionen der Fakultät, nämlich in Dänemark Schiffsschrott zu malen, alljährlich ohne mich stattfinden. Stattdessen liebe ich Photographie bei den Photographen Alexander Gräbner und Michael Nath sowie Siebdruck und Plastik bei Künstler Ulrich Fox. Welch wunderbare Wochenenden verbringe ich mit Farbe, Rakel und Sieb oder in der Dunkelkammer. Und wie erfrischend ist das Betrachten von Gegenwartskunst mit dem ausschweifenden Sammler und Kritiker Jürgen Weichhardt.
Zur Prüfung allerdings kann ich den dänenschiffsschrottmalenden Professor doch nicht vermeiden. Aber er lobt meine „beachtlichen“ praktischen Arbeiten und winkt mich durch unter der Bedingung, die Kunst nie wieder wissenschaftlich anzugehen. Das zu versprechen fällt mir leicht. Weshalb mein Studiumfinale hier sehr befreiend ist: Allseits großes Gelächter.